Im Angesicht der Katastrophe (Amos 3,3)

Vortrag anlässlich der Woche der Brüderlichkeit 1989 bei der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Aachen
Jüdische Gemeinde Aachen 12.03.1989
Von Friedhelm Wessel

Der Titel meines Vortrags ist mehrdeutig. Man fragt unwillkürlich: Welche Katastrophe? Da wir uns heute am Ende der Woche der Brüderlichkeit befinden, die zurückblickt auf 40 Jahre christlich-jüdischen Gesprächs, denkt man sicherlich zuallererst an das Ereignis, das dieses Gespräch in der neueren Geschichte erst begründet und notwendig gemacht hat: nämlich die Vernichtung von Millionen von Juden durch das nationalsozialistische Terrorregime, den Versuch, ein ganzes Volk auszurotten, den Holocaust, die Shoah. Und es ist in der Tat so, dass ein Reden und Nachdenken über das Verhältnis von Christen und Juden nach Auschwitz nur noch im Gedächtnis von Auschwitz möglich ist.

Der katholische Theologe Johann Baptist Metz hat auf dem Katholikentag 1978 in Freiburg gesagt: Wir Christen kommen niemals wieder hinter Auschwitz zurück; über Auschwitz hinaus aber kommen wir, genau gesehen, nicht mehr allein, sondern nur noch zusammen mit den Opfern". Dieser Satz muss heute als implizite Überschrift über jeder christlichen Theologie, über jedem christlichen Reden von Gott stehen.

Ich möchte deshalb jetzt den Versuch unternehmen, in einer Rückbesinnung auf die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens herauszufinden, was das denn heute bedeutet für uns: zu leben im Angesicht der Katastrophe. Ich will erinnern an eine alte, aber nichtsdestoweniger eine aktuelle Botschaft, an die des Propheten Amos, aus dessen Buch das Leitthema dieser Woche der Brüderlichkeit entnommen ist. Ich möchte Sie einladen, mit mir einen Blick zu werfen auf diesen Amos und seine Zeit - in der Hoffnung, daraus zu lernen für unsere heutige Zeit und vielleicht auch für die Zukunft.

Ich sagte zu Anfang, dass wir uns heute am Ende der Jubiläumswoche der Brüderlichkeit befänden. Das ist eigentlich nicht ganz richtig, denn im Grunde befinden wir uns schon in der Zeit nach dieser Woche, denn schließlich beginnt nach jüdischer und christlicher Zeitrechnung mit dem Sonntag die neue Zeiteinheit. In der jüdischen Tradition hat dieser erste, aber zugleich auch 8. Tag der Woche eine besondere Bedeutung. Er fordert dazu auf, den Blick auf das ganz Neue, auf das Zukünftige zu richten. Dieser Sonntag soll deshalb der Anlass sein, aus der Erinnerung an das Vergangene einen Blick zu wagen auf das, was kommen kann, was zu befürchten ist, was zu hoffen ist.

"Gehen zwei zusammen, ohne dass sie sich verständigt hätten?" - so lautet der Satz aus Am 3,3. Und unter diesem Motto steht nun das christlich-jüdische Gespräch in diesem Jahr. Dass diese Worte eigentlich eine Binsenwahrheit sind, wird noch deutlicher, wenn man den hebräischen Text etwas wörtlicher übersetzt. Dann heißt er: "Gehen denn etwa zwei miteinander, ohne dass sie zusammengekommen wären?". Das ist eine rhetorische Frage, deren Antwort nur in einem klaren "Nein" bestehen kann. Wer miteinander geht, muss sich erst getroffen haben, muss sich erst verständigt haben über den Weg, die Richtung, das Tempo des Gehens, sonst geht jeder für sich allein. Bei Amos geht es aber noch weiter: es folgt eine ganze Reihe von Fragen, auf die die Antwort immer gleich lautet: Nein, es gibt keine Wirkung ohne Ursache:

Gehen etwa zwei miteinander, außer wenn sie zusammengekommen sind? Brüllt der Löwe im Wald, wenn er keine Beute hat? Läßt der Junglöwe seine Stimme aus seinem Versteck erschallen, außer wenn er [etwas] gefangen hat? Fällt ein Vogel in das Klappnetz am Boden, ohne daß ihm ein Stellholz [gestellt] ist? Schnellt das Klappnetz von der Erde empor, wenn es gar nichts gefangen hat? Wird etwa in der Stadt das Horn geblasen, und das Volk erschrickt nicht? Geschieht etwa ein Unglück in der Stadt, und der Herr hat es nicht bewirkt? (Am 3,4-6)

Keine Wirkung ohne Ursache - das ist das Selbstverständlichste von der Welt. Warum aber stellt Amos diese Banalitäten in eine so eindringliche Reihenfolge? Die Antwort gibt er selbst, denn der Text lautet weiter:

Denn der Herr tut nichts, es sei denn, daß er sein Geheimnis seinen Knechten, den Propheten, enthüllt hat. Der Löwe hat gebrüllt, wer fürchtet sich [da] nicht? Der Herr hat geredet, wer weissagt [da] nicht? (Am 3,7-8)

Amos will auch seinen Zuhörern deutlich machen, was für ihn selbstverständlich ist: Wenn Gott spricht, muss der Prophet weissagen. Noch mehr: Wer die Stimme des Herrn gehört hat, dem bleibt keine andere Möglichkeit, als seinerseits den Mund aufzumachen und dieses Wort zu verkünden, wie unbequem die Botschaft auch sein mag. Prophet kann also nur einer sein, wenn zuvor an ihn das Wort ergangen ist.

Amos rechtfertigt sich hiermit ganz offensichtlich gegenüber Zweifeln an seiner Autorität; anscheinend hat es Leute gegeben, die ihm seine Botschaft nicht abgenommen haben, die meinten: "Da kann ja jeder kommen und sagen 'Ich bin ein Prophet, hört, was der Herr sagt'; so einfach ist das ja nun doch nicht!". Gegen solche Zweifler wendet sich Amos mit seiner rhetorisch brillanten Beweisführung.

Zur Person des Amos
Wieso aber muss sich Amos rechtfertigen? Wer glaubt ihm nicht? Um darauf eine Antwort zu finden, müssen wir uns die Person des Amos und auch die religiösen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit etwas näher anschauen. Auf den ersten Blick erzählt uns das Buch nicht viel über den Propheten. In Kapitel 1 heißt es lediglich: "Worte des Amos, eines Hirten von Theqoa, welche er über Israel geschaut hat in den Tagen Usijas, des Königs von Juda und in den Tagen Jerobeams, des Sohnes des Joasch, des Königs von Israel, zwei Jahre vor dem Erdbeben". Und in Kap. 7,14-15 sagt Amos von sich selbst: "Ich war weder ein Prophet, noch ein Prophetenjünger, sondern ein Hirte und Maulbeerfeigenzüchter. Der Herr nahm mich von der Herde weg und sprach zu mir: 'Geh, weissage meinem Volk Israel!'".

Dies sind nicht sehr viele Informationen. Wenn man jedoch die einzelnen Beschreibungen des Amos etwas näher anschaut, erkennt man Verbindungen, die ihn auf eine ganz eigenartige Weise kennzeichnen. Da ist als erstes die Berufsbezeichnung ganz am Anfang: Amos ist ein Hirt. Im Hebräischen steht dort: ba-noqdim, wörtlich übersetzt: "einer aus den Schafzüchtern". Der Stamm dieses Wortes lautet: naqod. Ein ganz eigentümliches Wort, denn es bedeutet: "gesprenkelt, punktiert, oder geritzt". Amos hat also mit gesprenkelten Schafen zu tun, er züchtet nicht das Einfarbige, sondern das Gescheckte, das, was zweierlei beinhaltet. Bei diesen gesprenkelten Schafen fiel mir sofort die Geschichte mit Jakob ein. Im ersten Buch Mose, Gen 30,25-43 wird nämlich erzählt, wie sich Jakob mit einer List einen Großteil der Viehherden seines Schwiegervaters Laban als Dienstlohn ausbezahlen lässt: alles gesprenkelte und gescheckte Tiere. Jakob ist also ebenfalls einer, der es auf das Gefleckte, das Doppelte abgesehen hat. Und ist nicht Jakob selbst ein "Doppelter", nämlich ein Zwilling neben seinem Bruder Esau? Hat er nicht zwei Frauen, nämlich Lea und Rachel und zwei Mägde, die ihm zusammen zwölf Söhne gebären?

Es scheint so, als ob die Doppeldeutigkeit eine besondere Qualität sei, die den Blick weg von einer sturen Eindeutigkeit hin zu Integration des Unterschiedlichen lenkt: man könnte sogar von einem dialogischen Prinzip reden. Jedenfalls geht es um Integration, nicht um Trennung. Amos ist wie Jakob einer, der um die Zweiseitigkeit unserer Existenz weiß: Vergangenheit und Zukunft, Unheil und Heil, Diesseits und Jenseits, Politik und Glaube.

Amos kommt aus Theqoah, einem Ort im Land Juda. Im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung war das unter den Königen David und Salomo entstandene Reich gespalten: Das Reich Juda im Süden mit der Hauptstadt Jerusalem und das Reich Israel im Norden mit der Hauptstadt Samaria (deshalb auch die Erwähnung von 2 Königen in Am 1,1,). Amos ist also aus Juda, er tritt jedoch im Norden, in Israel auf, vor allem in Samaria und am Heiligtum in Bethel. Er ist damit der einzige Prophet ganz Israels, der nur in dem Teilstaat des Landes auftritt, der nicht seine Heimat ist. Auch hier die Verbindung zweier Elemente in der Person des Amos.

Der Name des Ortes Theqoah erinnert aber noch an etwas anderes. Es ist das gleiche Wort wie in Ezechiel 7,14, dort wird es nur anders ausgesprochen, nämlich thaqoah und bedeutet: "Die Posaune" oder "die Trompete". Der Text bei Ezechiel lautet: "Es kommt die Zeit, es naht der Tag! ... Stoßt in die Posaune und rüstet alles; es ist doch niemand, der in den Kampf zieht, denn mein Zorngericht kommt über jedermann". Hier ist die Rede von dem großen Gericht und dem nahenden Ende dieser Geschichte, das der Herr herbeiführen wird. Deshalb sprechen die Propheten immer vom "Tag des Herrn". Theqoah und thaqoah stammen nun beide von dem Wort thaq'ah ab, was soviel heißt wie: "ins Horn stoßen". Dieses Hornblasen hat in der jüdischen Überlieferung eine ganz große Bedeutung. Die Posaune kündigt immer ein Ende an und gleichzeitig den Beginn von etwas ganz Neuem. Von daher ist auch der Engel mit der Posaune in die christliche Apokalypse des Johannes gelangt.

Die Posaune begleitet also den großen Umbruch, der durch das alleinige Wirken Gottes geschieht. Der Herr gießt seinen Zorn aus, er hält sich nicht mehr zurück, sondern er lässt, wie es in Ez 7,8 heißt, die Greueltaten des Menschen auf ihn selbst zurückfallen. Auslöser dieses Schreckens ist der Mensch deshalb selbst; der Herr schützt ihn jetzt aber nicht mehr gnädig, sondern sorgt für Gerechtigkeit, indem der Missetäter die Folgen seines Tuns auch zu spüren bekommt.

Das Ende ist unausweichlich und unerbittlich. Aber, und das wird immer wieder betont: es ist nicht alles. Mit dem Schall der Posaune beginnt auch etwas ganz Neues, das vollkommene Heil, für das die alten Propheten ebenso eindringliche Bilder gefunden haben, wie für den Schrecken, der ihm vorausgeht. Für diese andere Dimension möchte ich hier eine Stelle aus Jesaja anführen. Dort ist ebenfalls von der Posaune die Rede, nun aber als Zeichen der Wende zum Heil. In Jes 27,6.12-13 heißt es: "In den kommenden Tagen wird Jakob Wurzeln schlagen, wird Israel blühen und sprossen und den Erdkreis mit Früchten füllen... An jenem Tage wird man in die große Posaune stoßen dann werden kommen, die im Land Assur sich verloren und die nach Ägypten versprengt sind und sie werden den Herrn anbeten auf dem heiligen Berg in Jerusalem".

Soweit Jesaja. Die Posaune markiert also den absoluten Wendepunkt der Geschichte. Genau diese Funktion hat auch das Schofar-Blasen am großen Versöhnungstag, dem Jom Kippur, einem der wichtigsten Feste im Judentum bis heute. Schofar ist nichts anderes als der besondere hebräische Name für das Horn oder doe Posaune. Der Jom Kippur feiert die große Versöhnung zwischen Israel und seinem Gott. Es ist der Tag, an dem Israel seine Sünde vor Gott bekennt und sie gleichzeitig bei ihm aufgehoben weiß. An diesem Tag ist Israel dem Herrn ganz nahe, denn es ist der einzige Tag des Jahres, an dem der Hohepriester im alten Tempelkult das Allerheiloigste betreten durfte und dabei den heiligen Namen des Herrn ausspricht.

Amos also, um zu ihm zurückzukehren, steht in einer besonderen Beziehung zu diesem Geschehen. Es ist ganz deutlich, dass seine Worte, seine Botschaft, seine ganze Person von Theqoah herkommen: von der Posaune, die einen Einschnitt in die menschliche Geschichte be-deutet oder, im wahrsten Sinne des Wortes be-tont. In dieser Herkunft scheint uns wieder das Doppelte auf: das Ende, das wesentlich ein Anfang ist und der Neuanfang, der nicht ohne ein vorheriges Ende kommen kann. Wie sich diese Wende in der Botschaft des Amos im einzelnen zeigt, davon werde ich noch eigens sprechen müssen.

Zuvor aber noch eine andere Beobachtung. Im ersten Vers des Amos-Buches heißt es: "Worte des Amos, ... welche er über Israel geschaut hat". Da stutzt man doch schon und denkt: Wie ist es denn möglich, dass jemand Worte sieht? Worte empfängt man doch schließlich mit den Ohren und nicht mit den Augen. Von Amos heißt es hier aber ausdrücklich, dass er Worte gesehen hat. Mit diesem Vorgang muss es also etwas Besonderes auf sich haben. Dieses Besondere liegt einmal in der Qualität der Worte, die er empfängt; zum anderen in der Qulaität des Sehens, mit dem er sie empfängt. Beides hängt miteinander zusammen. Denn im Amos-Buch heißt es immer wieder: "So spricht der Herr!". Die Botschaft des Amos besteht also nicht aus seinen eigenen Worten, er ist vielmehr nur der Übermittler, der Botschafter von Gottesworten. Das ist ja gerade seine prophetische Berufung, wie sie auch in unserem Leitthema zum Ausdruck kommt. Das Aufnehmen dieser Worte durch den Propheten ist aber kein Hören im landläufigen Sinn - also so, wie Sie mich jetzt hören - sondern ein visionäres Schauen. Im Hebräischen gibt es dafür zwei besondere Bezeichnungen: Die eine lautet ro'eh, die andere choseh. Beide beschreiben den prophetischen Seher und können übersetzt werden mit "Seher".

Zum ersten Ausdruck hat unser Amos eine besondere Beziehung, denn er ist ja ein Hirte, und die allgemeine Bezeichnung für Hirt lautet ebenfalls: ro`eh. Dieses Wort wird genauso ausgesprochen wie das Wort "Seher", es unterscheidet sich nur in einem einzigen Buchstaben. Mit dem zweiten Ausdruck wird Amos beschrieben, wo es um seinen Beruf geht. Das dem Wort choseh zugehörige Substantiv lautet chason und man übersetzt es mit "Vision" oder "Traumgesicht". Wer mit dem jüdischen Gottesdienst vertraut ist, dem wird bei diesem Wort sofort der Name des Kantors, also des Vorsängers der Gemeinde einfallen: nämlich chasan. Und es ist in der Tat so, dass beide Bezeichnungen vom selben Wort "sehen" herkommen. Beim Kantor wie beim Propheten haben wir die gleiche Beziehung von Sehen und Reden, bzw. Singen. Man könnte sagen, dass derjenige, der etwas göttliches gesehen hat, auch davon reden, ja sogar davon singen muss. Der Prophet wie der Kantor sind deshalb Fürsprecher, Hirten des Volkes und der Gemeinde. Sie treten in einen Dialog mit Gott stellvertretend für das Volk. Diese Verbindung lebt heute noch im Amt des chasan, des Kantors.

Mit dieser Beobachtung sind wir wieder an den Ausgangspunkt der Überlegungen gelangt. Wir haben sie überschrieben: "Im Angesicht der Katastrophe". Es geht also um das Sehen. Amos gibt uns ein Beispiel, wie man sehen kann, ja wie man sehen muss. Kein flüchtiger Blick, sondern ein genaues Hin-Sehen, das auch ein Hin-Hören ist. Kein richtungsloses Umherschweifen des Blicks, sondern mit der exakten Richtung auf den, von dem her das Sehen kommt: von Gott dem Herrn. Kein eindimensionales Sehen, sondern ein sozusagen "doppeltes": erinnernd zurück, auf das, was war, kritisch auf das, was ist und perspektivisch, auf das, was kommen kann. Was also hat Amos damals, vor etwa 2700 Jahren gesehen, und was ist es, das uns heute noch darüber nachdenken lässt?

Die Zeit des Amos und seine Botschaft
Amos ist der älteste unter den sogenannten "Schriftpropheten", also denen, über die eigene Bücher vorliegen. Sein Auftreten fällt, wie schon kurz erwähnt, in die Zeit der Regentschaft der Könige Ussija von Juda (787-736) und Jerobeams II. von Israel (787-747). Wahrscheinlich hat Amos in den Jahren 760-750 v.u.Z. in Israel gewirkt. Man darf sich das nicht wie ein kontinuierliches Arbeiten vorstellen, sondern eher wie ein schlaglichtartiges Auftauchen und Verkünden in Samaria, der Hauptstadt und Bethel, dem zentralen Heiligtum. Sein Wirken hat vielleicht insgesamt einige Monate, vielleicht ein Jahr gedauert.

Die Zeit, in der wir uns mit Amos befinden, ist zwar geprägt durch die Teilung des Landes in zwei Staaten, es ist aber trotz der Teilung eine Zeit des politischen und wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Wirren der Reichsteilung nach dem Tode Salomos haben sich gelegt und die außenpolitischen Feinde Israels sind für einige Zeit geschwächt, sodass die Staatsgrenzen wiederhergestellt und gesichert werden können. Mit dieser außenpolitischen Stabilität geht auch eine wirtschaftliche Blüte im Innern einher. Ausbau der Städte und wachsender Handel und und Verkehr prägen die soziale Lage. Kurz: man lebt in Sicherheit und Wohlstand. Der Kult in Jerusalem und in Bethel steht in voller Blüte, man lässt es sich gut ergehen und ist voll Zuversicht, dass dieser Zustand andauern wird. Ja, man ist sich des Heiles, das Gott ganz Israel und allen Israeliten zugesprochen hat ziemlich gewiss. Von Pessimismus keine Spur, ganz nach dem Motto: "Wir sind wieder wer"!

In diese Verhältnisse hinein verkündet Amos seine Botschaft. Was er sagt, entspricht aber so gar nicht dem herrschenden Zeitgeist, wenn es etwa heißt:

So spricht der Herr: Wegen drei Verbrechen von Gaza und wegen vier werde ich es nicht rückgängig machen, weil sie ganze Ortschaften gefangen weggeführt haben, um sie an Edom auszuliefern. So sende ich Feuer gegen die Mauer von Gaza, daß es seine Paläste frißt. Ich rotte den Herrscher aus Aschdod aus und den, der das Zepter hält, aus Aschkelon. Ich wende meine Hand gegen Ekron, und der Überrest der Philister geht zugrunde, spricht der Herr. (Am 1,6-8)

Laßt es hören über den Palästen in Aschdod und über den Palästen im Land Ägypten und sagt: Versammelt euch auf den Bergen von Samaria und seht die große Verwirrung in seiner Mitte und die Unterdrückungen in seinem Innern! Sie verstehen nicht, das Rechte zu tun, spricht der Herr, sie, die Gewalttat und Verwüstung in ihren Palästen aufhäufen. Darum, spricht der Herr: Ein Bedränger wird das Land umzingeln! Er stürzt deine Macht von dir herab, und deine Paläste werden geplündert. So spricht der Herr: Ebenso wie der Hirte aus dem Rachen des Löwen zwei Unterschenkel oder einen Ohrzipfel rettet, so werden die Söhne Israel gerettet werden, die in Samaria in der Ecke des Lagers sitzen und auf dem Damast des Ruhebettes. Hört und bezeugt es gegen das Haus Jakob! spricht der Herr, der Gott der Heerscharen: An dem Tag, da ich die Verbrechen Israels an ihm heimsuche, werde ich auch die Altäre von Bethel heimsuchen: Da werden die Hörner des Altars abgehauen und fallen zu Boden. Und ich zertrümmere das Winterhaus samt dem Sommerhaus! Auch die Elfenbeinhäuser gehen zugrunde, die vielen Häuser verschwinden, spricht der Herr.
Hört dies Wort, ihr Kühe Basans auf dem Berg Samarias, die die Geringen unterdrücken, die Armen schinden, [und] zu ihren Herren sagen: Bring her, daß wir trinken! Geschworen hat der Herr bei seiner Heiligkeit: Ja, siehe, Tage kommen über euch, da schleppt man euch an Haken weg und euren Rest an Fischerangeln. Dann zieht ihr durch die Mauerrisse hinaus, eine jede vor sich hin, und ihr werdet hin zum [Berg] Hermon geworfen, spricht der Herr.
(Am 3,9-4,3)

Amos redet hier anscheinend von einer ganz anderen Gesellschaft, in der nicht Wohlstand, sondern Unterdrückung und Gewalt herrschen. Es wird mit seinen Worten erschreckend deutlich, dass das Volk gespalten ist. Der Wohlstand der Wenigen wird erwirtschaftet auf Kosten der Armen. Woher nimmt dieser Amos eigentlich die Sicherheit, dass die Verhältnisse so anders sind, als sie scheinen? Das fragt sich auch Amazja, der Oberpriester in Bethel. Er erkennt die Sprengkraft dieser Worte und sie sind ihm unbequem. Vielleicht könnten sie ihm sogar gefährlich werden. denn er ist ja königlicher Beamter und steht insofern auf der Seite der Mächtigen. Aus diesem Grund will er den Amos loswerden. Er sagt zu ihm (Am 7,12-13): "Du, Seher, geh, flüchte dich ins Land Juda! Dort iss dein Brot und dort magst du weissagen! Aber in Bethel darfst du nicht mehr weissagen, denn hier ist ein königliches Heiligtum und ein königliches Haus". Die Antwort des Amos kennen wir schon. Er rechtfertigt sich mit den Worten (Am 7,14-15): "Ich war weder ein Prophet, noch ein Prophetenjünger, sondern ein Hirte und Maulbeerfeigenzüchter. Der Herr nahm mich von der Herde weg und sprach zu mir: 'Geh, weissage meinem Volk Israel'". Amos ist also kein beamteter Prophet am Hof des Königs, der etwa nach dem Motto handelt: "Wes Brot ich ess, des Lied ich sing". Nein, Amos ist allein seinem Gott verantwortlich und dessen Wort ist für ihn verbindlich. Seine prophetische Rede ist die Erinnerung an die Wurzeln von Israels Wesen, nämlich den Glauben an seinen Gott und die Forderung nach Gerechtigkeit unter den Menschen. Amos lässt sich nicht blenden von sichtbarem materiellen Reichtum und greifbarem menschlichen Erfolg. Er weiß, dass der scheinbare Sieg der Mächtigen und Überlebenden nicht alles sein kann. Geschichte ist nicht das fortwährende Durchkommen der vermeintlichen Sieger. Geschichte ist vielmehr das Sich-Durchsetzen des Gotteswillens bis hinein in die Katastrophe. Bei Amos heißt es deshalb (Am 8,4-12): "Höret dies, die ihr den Armen zertretet und die Geringen zu verderben trachtet, und sagt: 'Wann ist der Neumond vorüber, dass wir Getreide verkaufen, und wann der Sabbat, dass wir die Speicher öffnen für das Korn? Wir wollen das Maß verkleinern und das Gewicht vergrössern und die Waage fälschen zum Betrug. Um Geld wollen wir den Dürftigen kaufen und den Armen um ein Paar Sandalen und selbst den Abfall vom Getreide verkaufen'. Der Herr hat geschworen bei Jakobs Stolz: Nimmermehr kann ich vergessen all eure Taten. An jenem Tage, spricht der Herr, lasse ich die Sonne unter gehen am Mittag und verfinstere die Erde am hellen Tag. Ich wandle eure Feste in Trauer und all euer Jauchzen in Klagegesang. Ich lege um alle Hüften ein härenes Gewand und auf jegliches Haupt eine Glatze. Ich mache es wie bei der Trauer um den einzigen Sohn und lasse es ausgehen wie an einem Tag voll Bitterkeit. Siehe, es werden Tage kommen, spricht der Herr, da sende ich den Hunger ins Land; nicht den Hunger nach Brot und den Durst nach Wasser, sondern zu hören das Wort des Herrn. Da werden sie irren von Meer zu Meer und vom Norden zum Osten streifen um das Wort des Herrn zu hören, und werden es nicht finden".

Die Katastrophe ist unausweichlich, das führt Amos dem Volk eindringlich vor Augen. Unausweichlich ist sie deshalb, weil das Unrecht, die Ausbeutung und Unterdrückung ins Maßlose gesteigert wurden. Amos sieht mehr als seine Zeitgenossen - dank göttlicher Berufung blickt er über den Tellerrand des Wirtschaftswachstums hinaus und erkennt die Folgen eines Handelns, das sich nicht an den Grundsätzen der Gleichheit und Gerechtigkeit unter den Menschen und an der Anerkennung der Gottesherrschaft orientiert. Für Amos ist es eine Gewissheit, dass das Volk zerstreut wird, das Land verwüstet, das Heiligtum zerstört, und dass, vielleicht das Allerschlimmste, das Wort Gottes, Nahrung für den Mnschen, nicht mehr gefunden wird. Alles das ist dann wenige Jahrzehnte später wirklich eingetroffen. Im Jahr 722 stürmten die Assyrer die Hauptstadt Samaria, besetzten das Land Israel und deportierten die Oberschicht nach Mesopotamien; Israel wurde assyrische Provinz, die neue Führung stammte aus Assyrien.

Im Angesicht dieser Katastrophe, die vor allem die Großen im Lande traf, hält Amos dem Volk einen Spiegel vor: Seht hin, fordert er sie auf, und erkennt, was mit euch los ist. Die Etablierten aber wollen nicht sehen. Stellvertretend für sie steht der Oberpriester Amazja, der Amos als unbequemen Unheilskünder und Störenfried abschieben will. Das Gericht ist ja gerade deshalb unausweichlich, weil der Großteil des Volkes nicht sehen will. Sicher gab es einige, die dem Amos glaubten; aber das waren wohl nicht diejenigen, die großen gesellschaftlichen Einfluss hatten. Die satten Bürger und die Oberschicht rechneten nicht mit einer Wende, sie lebten nicht im Angesicht der Katastrophe.

Amos will schließlich seinen Zeitgenossen nicht lediglich einen Schrecken einjagen. Er macht ihnen nur klar, dass die Wende kommt -so oder so. Denn die Katastrophe besteht in einer radikalen Umkehr. Katastrophe heißt ja, wörtlich übersetzt aus dem griechischen: "Umkehr", "Umsturz"; im klassischen griechischen Drama bezeichnet sie den Wendepunkt der Handlung. Und diese Wende ist nach Amos unausweichlich. Was Amos eigentlich sagen will ist dies: 'Wenn ihr nicht bereit seid, aus Einsicht in die Verkehrtheit eures Weges umzukehren, dann erfolgt die Umkehr mit Gewalt!' Deshalb heißt es im ersten und zweiten Kapitel des Amos-Buches immer wieder: 'Wegen der drei Verbrechen, ja wegen der vier nehme ich (Gott) das Gericht nicht zurück'. Wegen der vielen Verbrechen muss die Umkehr erfolgen!

Amos ist bei alledem kein utopischer Spinner, sondern Realist: als solcher sieht er wenig Aussichten für den Weg der Einsicht - also bleibt ihm nichts, als die Unerbittlichkeit der schmerzvollen und unfreiwilligen Umkehr zu predigen. Die Katastrophe hat aber immer ein doppeltes Gesicht. Es gibt immer ein Vorher und ein Nachher und das Ereignis selbst, welches der Umbruch ist. Das weiß auch Amos. Wir haben ja zu Anfang gesehen, dass er in besonderer Weise mit dem Doppelten zu tun hat, mit dem Dialogischen, den zwei Seiten derselben Medaille. Dementsprechend enthalten seine Worte nicht nur Drohungen. Er wagt auch einen Blick über den Wendepunkt hinaus. Denn die Katastrophe ist nicht nur Ende, sondern auch Anfang. Es gibt zwar ein Ende mit Schrecken, aber keinen Schrecken ohne Ende. Wie der neue Anfang aussieht, will ich mit Amos eigenen Worten beschreiben. Am Ende des Buches heißt es:

An jenem Tag richte ich die verfallene Hütte Davids auf, ihre Risse vermauere ich, und ihre Trümmer richte ich auf, und ich baue sie wie in den Tagen der Vorzeit, damit sie den Überrest Edoms und all die Nationen in Besitz nehmen, über denen mein Name ausgerufen war, spricht der Herr, der dies tut. Siehe, Tage kommen, spricht der Herr, da rückt der Pflüger nahe an den Schnitter heran und der Traubentreter an den Sämann, und die Berge triefen von Most, und alle Hügel zerfließen. Da wende ich das Geschick meines Volkes Israel. Sie werden die verödeten Städte aufbauen und bewohnen und Weinberge pflanzen und deren Wein trinken und Gärten anlegen und deren Frucht essen. Ich pflanze sie in ihr Land ein. Und sie sollen nicht mehr herausgerissen werden aus ihrem Land, das ich ihnen gegeben habe, spricht der Herr, dein Gott. (Am 9,11-15)

Für die gesamte Prophetie Israels ist immer eines gewiss: die göttliche Heilszusage bleibt bestehen. Israel ist und bleibt das auserwählte Volk - diese Gewissheit setzt sich noch in der Katastrophe durch. Aber - und das ist entscheidend für Amos: sie setzt sich auch nicht ohne die Katastrophe durch. Ob aus eigener Einsicht, oder gezwungen durch die Geschichte mit Gewalt: es gibt angesichts der menschlichen Unzulänglichkeit kein Heil ohne Umkehr.

Ich möchte einen nicht ganz unvermittelten Sprung in unsere Zeit wagen:
Nach den Mahnungen des Amos und unseren geschichtlichen Erfahrungen der letzten 50 Jahre bleibt mir als Christ nur eine Schlussfolgerung: eine wie auch immer geartete Heilsbotschaft, religiös oder politisch oder beides zugleich, die nicht das miteinbezieht, was Amos mit Israel meint, oder gar gegen es gerichtet ist, führt nicht zum Heil, sondern im Gegenteil zum Untergang. Israel als religiöser Begriff umschließt doch alle Menschen, die an diesen Gott der hebräischen Bibel glauben. Da gibt es nicht das Israel des Alten Bundes und daneben eines des Neuen, sondern nur ein einziges. Denn sonst könnte man sagen: 'Die Botschaft des Amos betrifft uns nicht. Zum einen ist es lange her und unsere Situation ist eine ganz andere, zum anderen haben wir nichts mit diesem Volk zu tun'. Nein, ich denke, man muss es ganz deutlich sagen: entweder geht die Botschaft des Amos uns alle an, oder sie ist keine göttliche Botschaft.

Sind wir bereit, daraus zu lernen? Und was heißt das dann, dieses Lernen heute?
Ich glaube, wir müssen auch lange nach diesen Ereignissen leben, handeln und uns verstehen in einem katastrophischen Bewusstsein. Ein solches Bewusstsein rechnet mit radikalen Unterbrechungen und nimmt sie als solche auch wahr. Katastrophisches Bewusstsein heißt: sensibel zu sein für Gefahren, Bedrohungen und Untergänge. Wo das Menschliche und das Geschöpfliche in unserer Welt auf dem Spiel stehen, da muss sich dieses Bewusstsein schärfen. Unsere Welt ist nicht so verschieden von der Welt des Amos, auch wenn 2750 Jahre dazwischen liegen. Auch wir können unter einer Fassade von Wohlstand, Wirtschaftswachstum und Sicherheit die Risse sehen, die unsere Gesellschaft hier und weltweit spalten. Mehr noch: heute braucht es gar keine Propheten wie Amos mehr, um zu erkennen, dass das Überleben der Menschheit und die Existenz der Erde auf dem Spiel stehen. Unsere Wirklichkeit ist selbst schon prophetisch geworden.

Im Angesicht dieser Katastrophe ist die ganze Menschheit herausgefordert. Ich möchte hier an einen Satz von Pinchas Lapide erinnern, den er am vergangenen Wochenende hier in Aachen bei einer Tagung zur Woche der Brüderlichkeit gesagt hat. Als jüdischer Vertreter unter den Referenten meinte er am Ende seines Referates (sinngemäß), dass der christlich-jüdische Dialog von morgen sich unumgänglich an den Themen Bewahrung der Schöpfung, Einsatz für eine gerechtere Welt und Schalom, also dem Frieden in umfassender Form wird bewähren müssen.

Ich würde sogar noch darüber hinausgehen und sagen: der Dialog aller Religionen muss sich angesichts sieser Katastrophe bewähren, insbesondere das Gespräch zwischen den großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Unsere Wirklichkeit lässt es nicht mehr zu, dass die Menschheit auseinanderdividiert wird. Wir sehen ja, wohin es führt, wenn einzelstaatliche Interessen und Interessen einzelner Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Dabei bleiben überall die Schwachen auf der Strecke. Dass das nicht vereinbar ist mit unserem gemeinsamen Gottesbild, sagt uns schon Amos.

Im Angesicht der Katastrophe heißt es aufmerksam und hellhörig zu sein, wenn die Menschlichkeit der Gesellschaft und die Geschöpflichkeit der Welt auf dem Spiel stehen. Das Gespräch der Religionen steht und fällt mit der Bewältigung solcher Menschheitsfragen. Das zeigt auch das Motto dieser Woche der Brüderlichkeit, wenn man es umgekehrt liest:

"Wo keine Verständigung ist, da gibt es auch keinen gemeinsamen Weg".

Und ich möchte hinzufügen: wo kein gemeinsamer Weg existiert, der Umkehr heißt, da kommt die Katastrophe mit Gewalt.