Auge um Auge ...

Eine biblische Klärung
Von Friedhelm Wessel

In den Zeiten nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wird ein biblisches Wort immer wieder in die Diskussionen und Kommentare zu diesem Ereignis und seinen Folgen aufgenommen wie eine Beschwörungsformel. Es ist das Wort "Auge um Auge, Zahn um Zahn" aus der hebräischen Bibel (Ex 21,24). Das Wort wird meist benutzt, um sich selbst abzugrenzen von einer Reaktionsweise, die damit als unreflektiert und rücksichtslos hingestellt werden soll. "Auge um Auge" stehe für unbedingte Vergeltung ohne menschliches Maß. Ein Gott, der solches Recht setze, wird dann ein "rachsüchtiger" Gott genannt, seine Weisung "alttestamentarisch" und damit überholt, antiquiert, einer modernen demokratischen und sozialen Gesellschaft unwürdig.

Es ist erschreckend, mit wie wenig Rücksicht auf den zu Grunde liegenden sprachlichen und inhaltlichen Zusammenhang dieses "Zitat" so von aller Welt - je nach Temperament und eigenem Standpunkt - warnend, drohend oder bestürzt angewendet wird. Das Wort hat sich vollkommen verselbständigt, es führt ein unkontrolliertes Eigenleben. Dabei unterstelle ich, dass kaum jemand einmal den Text selbst herangezogen hat, um zu sehen, was denn da wirklich geschrieben steht. Ein solcher Umgang mit biblischen Texten ist heute die Regel. Im Zeitalter der flotten Schlagzeile und der zur schnellen geistigen Verdauung durch die Medien aufbereiteten Information bleibt Nachdenklichkeit und genaue Beobachtung vielfach auf der Strecke.

Also: schauen wir hinein in den Text. Da heißt es im Buch Exodus:

"Wenn Männer sich raufen und eine schwangere Frau stoßen, so dass herauskommen ihre Leibesfrüchte, aber (sonst) kein schlimmes Unglück entsteht, so muss dem Schuldigen eine Geldbuße auferlegt werden, wie der Ehegatte sie ansetzt, doch er soll nach dem Ermessen der Schiedsrichter geben. Wenn aber ein schlimmes Unglück entstanden ist, so sollst du geben: Lebendige Seele an Stelle von lebendiger Seele, Auge an Stelle von Auge, Hand an Stelle von Hand, Fuß an Stelle von Fuß, Brandmal an Stelle von Brandmal, Wunde an Stelle von Wunde, Strieme an Stelle von Strieme" (Ex 21,22-24)

Hier finden wir einen exakt umrissenen höchst speziellen Sachverhalt: Bei einer Rauferei zwischen Männern erleidet eine dabeistehende schwangere Frau eine Frühgeburt. Es handelt sich hier offenbar nicht um eine kriminelle Handlung, sondern um einen Unfall auf Grund von fahrlässigem Verhalten. Die biblische Vorschrift widmet sich den Folgen dieses Ereignisses für die Frühgeborenen (im hebräischen Text steht für die Leibesfrucht die Mehrzahl, möglicherweise ist daher an Zwillinge gedacht), die Mutter, deren Ehemann und den Schuldigen. Es geht dem biblischen Text selbst überhaupt nicht um Verallgemeinerungen, sondern ganz im Gegenteil um eine akribische Darstellung des Sachverhaltes und eine ganz genaue Festlegung der Maßnahmen für jede nur erdenkliche Folge der Tat. Dennoch ist der Fall natürlich exemplarisch. Schauen wir deshalb noch genauer hin:

Die Buße soll den Schuldigen treffen. Dieser ist aber im vorliegenden Fall gar nicht so einfach zu identifizieren. Wenn Männer so miteinander raufen, dass eine Schwangere ernsthaften Schaden nimmt, so wird es dabei recht wild zugegangen sein. Wer will in diesem Fall den einen Schuldigen klar benennen können, der dann die Konsequenzen zu tragen hätte? Nein, der Fall ist überhaupt nicht einfach gelagert.

Falls diese Hürde überhaupt genommen wird und ein Schuldiger identifiziert werden kann, so hängt dessen Buße von der Schwere der Tat ab. Bleibt es lediglich bei der Frühgeburt, d. h. nehmen sowohl die Mutter, als auch die Kinder keinen offensichtlichen Schaden, so hat der Schuldige allein für die Frühgeburt eine Geldbuße zu geben. Diese wird vom Ehemann der Frau festgesetzt, soll aber erst nach Überprüfung durch ein Schiedsgericht geleistet werden.

Entsteht jedoch ein schlimmer Schaden an Leib und Leben, so soll dieser ausgeglichen werden nach einer festgesetzten Regel. Der Schuldige soll geben nach dem Maß des Schadens, den er angerichtet hat. Das drückt der Text aus durch die Auflistung: Lebendige Seele an Stelle von lebendiger Seele, Auge an Stelle von Auge ... Die Abfolge dieser Leistungen entspricht der Schwere des Schadens. Die Reihenfolge geht vom schlimmeren zum geringeren Übel, vom Verlust des Lebens bis hin zu einer Wunde oder oberflächlichen Strieme. Alles an diesem Text atmet zunächst einmal den Geist des gerechten Ausgleichs und der Eindämmung von überzogenen und ungerechtfertigten Forderungen. Man stelle sich den Ehemann der werdenden Mutter vor, die eine Fehlgeburt erleidet und womöglich selbst dabei zu Schaden kommt. Es wäre überhaupt kein Wunder, wenn dieser Mann die Kontrolle über sich selbst verlöre und mit brutaler Gewalt auf den Schuldigen oder im Zweifelsfall gar auf beide Raufbolde losginge und unterschiedslos zuschlüge in seiner Wut und Verzweiflung. Gerade gegen solcher Art - in gewisser Weise sogar verständlicher - Rache und Selbstjustiz wendet sich unser Text. Deshalb hat man dieses Recht "ius talionis", das "Recht des Ausgleichs" genannt. Es predigt gerade nicht wilde Rache und größtmögliche Vergeltung, sondern im Gegenteil die Eindämmung der Gewalt nach einem wirklich schlimmen und folgenreichen Geschehen.

Ein ganz wesentlicher Aspekt dieser Rechtsgrundsätze muss darüber hinaus unbedingt beachtet werden: Der Text redet beim Ausgleich des Schadens davon, dass der Schuldige - und nur dieser - einen Ausgleich geben soll. Nicht der Geschädigte soll fordern, nicht die Schiedsrichter, nicht die Führung des Volkes oder das Volk selbst, nein, niemand soll fordern oder nehmen, sondern der Schuldige soll geben. Der Text betont diese Perspektive auf den Täter ganz entschieden durch den Wechsel im angesprochenen Subjekt. Hieß es in Vers 22 noch vom Schuldigen "er soll geben", so heißt es in Vers 23 "so sollst du geben". Das Geben ist als eine persönlich und aktiv zu vollziehende Handlung gedacht. Hier geht es folglich nicht um objektive Strafe für einen kriminellen Tatbestand, sondern um die Möglichkeit des subjektiven Ausgleichens für den - absichtlich oder unabsichtlich - Schuldigen. Ihm soll Gelegenheit gegeben werden, sich zu entlasten von einer Bürde, die er trägt. Buße soll möglich werden als selbstverantworteter Vollzug im Angesicht der Opfer.

Selbstverständlich ist die Vorstellung völlig abwegig, ein Mensch könne in diesem Fall tatsächlich einen Körperteil, Auge, Zahn, Fuß oder was auch immer hergeben, um den Schaden auszugleichen, ganz zu schweigen von einem Einsatz des eigenen Lebens. Deshalb hat die jüdische rabbinische Tradition in vielen Auseinandersetzungen um diese Stelle immer darauf verwiesen, dass als Ersatz für den körperlichen Ausgleich eine Geldzahlung nicht nur ausdrücklich in Frage kommt, sondern sogar das gebotene Verfahren ist (z.B. im Talmud: Bawa kamma 83b/84a). Entscheidend ist eben nicht die "materielle" Wiedergutmachung, sondern die Ermöglichung von Buße und damit die Eröffnung eines Weges der Versöhnung.

Bei der Festsetzung der Ausgleichsleistung gilt ein weiteres Prinzip. Nur für den leichten Fall, dass kein "schlimmer" Schaden entstanden ist, darf der Ehegatte der werdenden Mutter selbst die Höhe der Geldbuße festsetzten, noch dazu soll der Schuldige den Betrag erst nach Hörung eines Schiedsgerichtes geben. Bei den gravierenderen Folgen für Leib und Leben jedoch ist es nicht länger der Mensch, der die Buße festsetzt, sondern Gott. Der biblische Text, verstanden als Wort Gottes, definiert die vom Schuldigen zu erbringende Leistung. Das Gesetz des Ausgleichs - man sollte besser sagen: das Gesetz der Eindämmung - ist deshalb gerade nicht menschliches, sondern göttliches Gesetz. So wenig dieser Gott rachsüchtig ist (wofür sollte er eigentlich Rache nehmen?), so wenig hat das "Auge für Auge" mit Vergeltung durch das Opfer zu tun.

Gegen diese angeblich lieblose Gesetzesmechanik des "Alten Testaments" samt ihrem furchterregenden Gottesbild wird häufig genug die Ethik Jesu ins Feld geführt, gestützt auf den Text aus der Bergpredigt bei Mt 5,38-39:

"Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist 'Auge für Auge, Zahn für Zahn'. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin".

Die gängige Interpretation des "Auge um Auge" verdankt sich allein dieser Rede Jesu und nicht der Lektüre des hebräischen Originaltextes. Das hat - wie wir gesehen haben - schwerwiegende Folgen für das Verständnis. Aber schauen wir auch hier genau hin und lassen uns nicht von traditionellen Denkmustern beirren:

Recht betrachtet zieht diese starke Aussage Jesu nicht den Wortlaut der hebräischen Bibel in Zweifel, sondern wendet sich gegen das falsche Hören und die sich daraus ergebende falsche Handlungsweise. Jesus stellt ganz analog dem Text in Ex 21,24 heraus, dass nicht das Opfer Widerstand gegen den Täter leisten soll. Ein Widerstand führt offenbar zwangsläufig dazu, die Spirale der Gewalt nur noch weiter zu drehen. Nein, die Gewalt soll nicht fortgesetzt, sondern beendet werden. Das ist auch die Intention der Vorschriften im Buch Exodus. Der Unterschied zwischen beiden Texten betrifft nicht den Inhalt, sondern die Adressaten: Ex 21,24 weist den Täter an: "Du sollst geben: Auge an Stelle von Auge ...", Jesus fordert dagegen das Opfer auf: "Leiste dem, der dir Böses tut, keinen Widerstand". Das sind hinsichtlich der angesprochenen Personen grundverschiedene Perspektiven, die nicht in einem antithetischen Verhältnis stehen. In beiden Texten drückt sich vielmehr dieselbe Absicht aus: Es geht um das Durchbrechen der drohenden Gewaltdynamik. Die Texte verhalten sich daher synthetisch zueinander, nicht antithetisch. Falsch ist hier wie dort ein menschliches Verhalten, das Rache und Vergeltung nach den eigenen Maßstäben fordert und auch eigenmächtig durchsetzt. Hier wie dort wird das Maß der Gerechtigkeit nicht nach menschlichem, sondern nach göttlichem Ermessen gesetzt. Jesu Ethik ist daher nicht die "bessere" oder "größere" Gerechtigkeit auf dem dunklen Hintergrund eines überwundenen oder abgelösten alttestamentlichen "Gesetzes" oder in Abgrenzung gegen einen angeblichen "Gott der Rache". Auch nach dem Neuen Testament gilt dieser selbe Gott als der liebende Vater Jesu. Von seiner Weisung, der Tora (oft falsch als "Gesetz" verstanden), wird von Jesus nichts zurückgenommen:

"Denkt nicht, ich sei gekommen, um die Tora und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe der Tora vergehen, bevor nicht alles geschehen ist." (Mt 5,17-18).