Die Geschichte von Rabbi Akiba

Nacherzählt von Friedhelm Wessel unter Verwendung von:

Friedrich Weinreb Der mystische Weg. Thauros-Verlag, Weiler 1993, S. 27-50
Der Krieg der Römerin. Erinnerungen 1935-1943. Thauros Verlag, Weiler 1981, Band 1, S. 20-79

Rabbi Akiba, ein Weiser in Israel, wurde nach jüdischer Überlieferung im Jahr 0 der christlichen Zeitrechnung geboren. Seine Lebenszeit wird mit 120 Jahren angegeben. Die ersten vierzig Jahre war er ein armer Hirte, der weder lesen noch schreiben konnte. Er diente bei Kalba Schwua, einem reichen Mann in Israel. Dieser Kalba Schwua hatte eine schöne Tochter, in die sich Akiba verliebt. Die Tochter liebt auch ihn. Ihr Vater aber ist gegen diese Verbindung wegen der niederen Herkunft und der Ungebildetheit Akibas. Die Tochter ist wohl auch Kalbas Lieblingstochter und er will sie nicht verlieren. Aber die beiden Liebenden heiraten doch und werden daraufhin von Kalba Schwua verstoßen .

Nach der Hochzeit zieht Akiba fort, um nach dem Willen seiner Frau in den Lehrhäusern der großen Weisen zu lernen. Um dieses Studium zu ermöglichen, verkauft die Frau dafür ihr reiches Haar. Nach "22 Jahren" kehrt er mit "24.000 Schülern" zurück und hört, wie einer zu seiner Frau sagt: "Wo ist denn dein Mann? Der ist doch schon so lange fort, der kommt bestimmt nicht mehr zurück!". Er hört auch, wie seine Frau antwortet: "Gewiss kommt er zurück. Und wenn er auch noch weitere sieben Jahre fortbliebe - ich würde auf ihn warten". Da kehrt Akiba um, und ohne sich zu erkennen zu geben geht er zurück in die Lehrhäuser, um weitere sieben Jahre zu lernen.
Nach Ablauf dieser Zeit kommt er mit einer noch größeren Zahl von Schülern als angesehener Mann zu seinem Schwiegervater Kalba Schwua zurück . Der erkennt ihn aber nicht. Im Gespräch mit Akiba äußert der Schwiegervater nun sein Bedauern darüber, dass er seine Tochter damals verstoßen hat, und er sagt zu ihm: "Ja, wenn dieser Hirte wenigstens gesagt hätte, dass er lernen wolle, hätte ich schon in die Heirat eingewilligt". Da gibt sich Akiba zu erkennen, und alle sind glücklich und zufrieden.

Nach weiteren 40 Jahren, also mit 80, begegnet Akiba einer zweiten Frau. Der Statthalter in Palästina, also der Vertreter des römischen Kaisers dort, der im Talmud Turnus Rufus genannt wird, diskutiert immer wieder mit Akiba, um ihn zum überzeugten Römer zu machen. Das gelingt ihm aber nicht, und wenn er abends nach Hause kommt, klagt er seiner Frau, dieser Akiba kehre ihm ständig seine Argumente um, und er könne ihm einfach nicht beikommen. Da sagt die Frau: "Ich werde dir helfen, lass mich nur machen". Nun muss man wissen, dass von dieser Frau in der Überlieferung gesagt wird, sie sei so schön, dass jeder Mann, der sie sieht, sofort nur noch sie zu besitzen wünscht und alles andere vergisst. Sie sagt nun zu ihrem Mann, sie werde jetzt zu Akiba gehen und der müsse vor ihr - wie jeder Mann - kapitulieren.
Akiba aber verhält sich reichlich merkwürdig, als sie ihn aufsucht, um ihn zu verführen. Es heißt nämlich, dass er erst ausspuckt, dann weint und dann lacht. Auf die verwunderte Frage der Frau, was das zu bedeuten habe, gibt er ihr zur Antwort: "Ich spuckte aus, weil Deine Schönheit doch nur Fleisch ist, das betört. Ich weinte, dass solche Schönheit, die doch tatsächlich da ist, vergehen muss. Warum ich lachte, kann ich dir nicht sagen." Da ist diese Frau natürlich besonders neugierig. Das Gespräch zieht sich hin und am Ende nennt Akiba ihr den Grund seines Lachens, nämlich: dass es auch für sie eine Umkehr gibt, wodurch das in der Zeit Fortfließende dem Ewigen verbunden wird, und der Mensch sein Leben im Ewigen schon jetzt, in der Zeit erkennen kann. Und dann, so erzählt die Geschichte, wird sie seine Frau.

Akiba hat also dann zwei Frauen: Eine stille, bescheidene, und eine forsche, fordernde, verführerische. Beide Seiten gehören zur Welt. Die gute Seite und die verführerische Seite gehören zusammen. Erst wenn man beide Frauen hat, kann man den Weg gehen. Die Frauen sind das Verhalten des Menschen zur Welt. Dieses Verhalten hat zutiefst dualistischen Charakter. Bei Akiba geht dieser Dualismus aber nicht wie in den meisten Fällen auseinander, sondern zusammen. Die Zweiheit ist immer die Weise, wie die Welt erfahren wird. Dabei soll aber die Einheit in der Zweiheit gesucht werden. Die jüdische Tradition sagt, dass die Stelle bei der Frau, wo die Schenkel zusammenkommen, dieses Geheimnis der Einheit in der Zweiheit ist und deshalb die ungeheure Anziehungskraft besitzt. Das Kind, das bei diesem Akt dann herauskommt, ist eigentlich die Frucht der Zweiheit und die kommende Einheit.

Als Akiba die beiden Frauen hat, beginnt sein Weg ins Paradies. Er geht ihn zusammen mit drei Genossen, und alle vier gelangen ins Paradies. Nach der Rückkehr aber bleibt nur Akiba allein übrig. Die drei anderen gehen nachher im Leben auf irgendeine Art unter: Ben Soma wird verrückt, Ben Asai stirbt "in der Hälfte seiner Tage", Elischa ben Abuja wird zum Abtrünnigen, zum Spötter. Warum schaffen diese drei den Rückweg nicht? Es wird erklärt: Der Weg ins Paradies geht über 4 Phasen, und man muss die innere Geduld haben, alle vier Phasen zu durchschreiten, sonst geschieht nur ein Unglück.

  • In der ersten Phase lernt man die Welt so kennen, wie sie ist (pschat = olam assia). Hieran scheitert Elischa ben Abuja.
  • In der zweiten Phase erfährt man die Welt im Wort (remes = olam jezira). Diese Phase hat Ben Asai ausgelassen.
  • In der dritten Phase erlebt man das, was man in der ersten und zweiten Phase erfahren hat selbst, im eigenen Inneren (drusch = olam bria). Das fehlt Ben Soma, und er wird verrückt.
  • In der vierten Phase führt ein Engel den Menschen und der sieht nun, wie alles um ihn herum sich mehr und mehr zu einer Einheit zusammenfügt (sod = olam azilut). Diesen Weg geht nur Rabbi Akiba, denn er hat alle drei Phasen durchlaufen und trägt sie in sich.

Am Ende kommt man an einen Brunnen, an dem zwei Frauen stehen. Dort erkennt der Mensch, dass die zwei Frauen eigentlich eine einzige sind, und schaut im selben Augenblick das Paradies im Himmel, in der jenseitigen Welt. Da erfährt er sich im Bild und Gleichnis Gottes.

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Akiba hat eine Tochter, die er sehr liebt, denn es ist seine einzige. Die Tochter soll bald heiraten. Ein Freund Akibas, ein Babylonier, sagt ihm: "Der Tag, an dem die Hochzeit sein soll, ist der Todestag deiner Tochter. Ich habe es aus ihrem Horoskop gesehen. An diesem tag wird sie von einer Schlange gebissen und stirbt." Akiba lässt sich das Horoskop zeigen und sieht: Alles ist vollkommen richtig berechnet, es stimmt, es ist so. Dennoch sagt er: "Heiraten ist etwas im Leben Entscheidendes, denn es bedeutet ein Verbinden des Erscheinenden, des Äußeren, mit dem Verborgenen, dem Inneren. der Sinn des Lebens ist, dass der Mensch diese beiden Seiten verbindet, dass er also heiratet". Mit Heiraten ist hier natürlich kein bürgerlicher Akt gemeint, sondern ein Zusammenkommen einer Dualität, ein Zusammenkommen von Erscheinendem und Verborgenem, damit die Frucht sein kann. "Also" sagt Akiba "ich werde aber alle Vorkehrungen treffen, dass eine Schlange nicht in ihre Nähe gelangen kann". Man durchsucht dann die Umgebung und das Haus, überall werden Wachen aufgestellt, und am Hochzeitstag ist man sicher, dass keine Schlange mehr da ist.

Die Tochter, die von nichts weiß, sitzt als gefeierte Braut am Tisch und alle großen Weisen kommen zu Besuch. Während sich die Dienerschaft ganz um die hohen Gäste kümmert, sieht die Braut plötzlich einen Bettler scheu am Eingang stehen. Niemand kümmert sich um ihn. Da steht sie auf, geht zu ihm hin und nimmt ihm den Mantel ab. Der Brauch ist, dass am Eingang ein Köcher hängt mit Pfeilen und die Lehmwand dort eine weiche Stelle hat, wo man den Pfeil hineinstecken kann. Die Tochter Akibas nimmt also einen Pfeil, bohrt ihn in die Wand und hängt den Mantel des Bettlers daran. Dann geht sie zurück an ihren Platz und sorgt dafür, dass der neue Gast bewirtet wird. Das geschieht alles im festlichen Gewühl, ganz unbemerkt.

Der Tag geht vorbei, ohne dass die Vorhersage des Babyloniers eingetroffen wäre. Man eröffnet nun der Braut, was in ihrem Horoskop zu lesen war, und fragt sie, was im einzelnen sie an diesem Hochzeitstag getan habe. Sie kann sich an nichts besonderes erinnern; da fällt ihr die Episode mit dem Bettler ein. "Wo war es?" fragt man, "wo hast du den Mantel hingehängt?". Sie erinnert sich, dass es der letzte Pfeil in der Reihe war. Man zieht ihn heraus: Seine Spitze hat eine Schlange durchbohrt.

Diese Schlange, heißt es, war seit beginn der Schöpfung dazu bestimmt, die Tochter Akibas an diesem Tag, an ihrem Hochzeitstag, zu beißen, und ihr Biss sollte tödlich sein. Ihre "gute" Tat aber - sie tat etwas, das über das, was von einem Menschen nach menschlicher Norm erwartete werden konnte, hinausreichte - hat sie also vor dem Tod bewahrt.