SANS, SOUCI.

Historische Grenzgänge eines Exegeten nach Potsdam

Eine Dokumentation mit 4 Abbildungen

von Dipl.-Theol. Friedhelm Wessel
3. Mai 2002

1. Der Ausgangspunkt

In der Ausgabe 14/2002 der ZEIT vom 27.03.2002 (Gründonnerstag) fand ich eine Buchbesprechung zu einem Werk des Historikers Prof. Dr. Heinz Dieter Kittsteiner von der Universität Frankfurt (Oder). Der Autor des Artikels, Peter Schöttler, beschreibt darin die Forschungsergebnisse des Gelehrten zur Inschrift SANS, SOUCI., die dem Potsdamer Schloss Friedrichs des Großen den Namen gegeben hat.

Den Artikel aus der Zeit gebe ich hier ungekürzt wieder:

DIE ZEIT Literatur 14/2002 (27.03.2002)

Komma-Forschung

Einem preußischen Rätsel auf der Spur. Von Peter Schöttler

Auf dem Gesims des Schlosses prangt zwar der berühmte Name, aber die meisten Potsdam-Besucher übersehen die Interpunktion: "Sans, Souci." Oder Deutsch: "Ohne Sorge." Warum aber das Komma und warum der Punkt? Eine zeitgenössische Schreibweise ist dies nicht. Auch kein Schreibfehler, denn bekanntlich sprach und schrieb Friedrich der Große besser Französisch als Deutsch. Dahinter muss also eine Idee stecken, gemäß dem Motto aller Aufklärer: À bon entendeur, salut!
Nachdem das Problem bislang nur Lokalhistoriker und Journalisten behandelten, hat sich nun der in Frankfurt (Oder) lehrende Historiker Heinz Dieter Kittsteiner seiner angenommen und eine profunde Studie vorgelegt, von der man sagen darf, dass sie die deutsche Komma-Forschung auf eine neue Stufe hebt. Wenn es außerdem im Impressum heißt: "Gedruckt ohne Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft", wird klar, welche Entbehrungen der Gelehrte in Kauf nahm. Keine Drittmittel, kein Freisemester, keine Hilfskräfte! So viel Pflichterfüllung ist immer seltener und auch fast gefährlich, denn in Zeiten "leistungsbezogener Mittelzuweisung" ist die Einwerbung von Drittmitteln fast wichtiger als die finanzierte Forschung. Seine Regimekritik hat der Autor in einer Fußnote versteckt: "Wenn ich die Weisheit höheren Ortes recht verstehe, dann ist das so gedacht: Man senkt die Grundfinanzierung der Universitäten ab, und dann sollen sie Schleimpunkte sammeln, um sich höheren Ortes wieder anzudienen. Welch ein herrliches Steuerungsinstrument für eine effizientere Forschung und Lehre!"
Eine solche Wissenschaft ohne Anträge hier und dort mag etwas länger dauern, und die Bücher sind wohl auch kürzer, aber, wie das vorliegende beweist, oft umso fröhlicher und subversiver. Machen wir uns nichts vor: Niemand nähert sich dem preußischen Nationalheiligen, ohne seine politische Korrektheit unter Beweis stellen zu müssen, und der Streit über diese oder jene Schlacht dürfte immer noch wichtiger sein als die simple Frage: Wer war dieser Mann, der sein neues Schloss mit einem geheimnisvollen Komma markierte?

Wissenschaft oder Parodie?
Ganz ernsthaft und anschaulich entwickelt Kittsteiner zwei Hypothesen. Zunächst liest er die vergoldeten Lettern von Sanssouci im Lichte von Geheimschriften des 18. Jahrhunderts. Die Satzzeichen könnten demnach Informationen enthalten, die dem sorglosen Namen eine zweite Bedeutung geben, die nur Eingeweihte verstanden. Einem dieser Codes zufolge stünde das Komma für Calvinismus, der Punkt dagegen für Naturalismus oder Deismus, jener Vernunftreligion, der auch der junge König huldigte. Das ergäbe folgende Lektüre: Ohne strenge protestantische Religion - für die auch Friedrichs Vater stand - ist man ein sorgenfreier Deist. Eine quasiphilosophische These mit autobiografischem Hintergrund. Obwohl inhaltlich manches für sie spricht, bleiben Ungereimtheiten. Man muss nämlich zweimal "sans" lesen: "Sans calvinisme on est sans souci deiste."
Kittsteiner entwickelt daher noch eine zweite These, die sich auch auf die Biografie des jungen Königs stützt. Er nimmt jetzt das Komma wörtlich, als "virgule" oder, zu Deutsch: Virgel, Beistrich, Strichlein, Stäbchen, Rütchen und so weiter. Ein heikles Thema, wir ahnen es. Doch im 21. Jahrhundert sollte es möglich sein, darüber zu sprechen. Im Übrigen vertritt der Autor keineswegs die These von einem "schwulen Friedrich" - obwohl das sicher verkaufsfördernd gewesen wäre. Das Komma hätte sich dann als ein trotziges "Das ist gut so" interpretieren lassen. Vielmehr geht er davon aus, dass dem Kronprinzen in seinen wilden Jahren etwas zugestoßen ist, das chirurgisch falsch behandelt wurde und er dauerhaft die Potenz verlor. Diesen traurigen Zustand habe Friedrich für sich und ein paar Eingeweihte sarkastisch verarbeitet: Ohne Virgel keine Sorge.
Manchen wird dies alles zu fantasievoll sein. Doch das Komma von Sanssouci ist nun einmal da, und raffinierte Gedankenexperimente sind allemal besser als gar keine. Im Übrigen schließen sich Kittsteiners Hypothesen nicht gegenseitig aus, deutet er auch selbst an. Wenn Friedrich mit Zeichen und Bedeutungen spielte, könnte das Komma sowohl für den autoritären Vater, dessen Religion und Erziehungsmethoden gestanden haben als auch für den verlorenen Penis. Hinzu kommt, dass der Punkt im Französischen "point" gesprochen wird, was gleichzeitig "nicht" bedeutet. Im Telegrammstil ergibt sich daher: "Sans virgule souci point" und folglich eine dritte Lesart: Ohne Vater-Religion-Penis keine Sorge.
Wissenschaft oder Parodie? Oder eine Mischung aus beidem? Die Leser mögen es selbst herausfinden. Jedenfalls sind diesem Buch, das man allen Geschichtsstudenten schenken sollte, möglichst viele zu wünschen.

Heinz Dieter Kittsteiner: Das Komma von Sans, Souci. Ein Forschungsbericht mit Fußnoten. Manutius Verlag, Heidelberg 2001. 91 S., 15,-

2. Das Interesse

Das Thema hat mich natürlich brennend interessiert. Und zwar aus vier Gründen, die sich teils der natürlichen Ausprägung meiner körperlichen Existenz, teils eines in Studien oder Praxis erworbenen Wissens, teils persönlicher Vorlieben und Leidenschaften verdanken. Als da wären:

  1. Ich bin ein Mann
  2. Ich bin Theologe
  3. Ich verdiene mein Geld mit der EDV, bei der es bekanntlich unter Verwendung allerkleinster Strukturen auf fundamentales Zusammenspiel gegensätzlicher Elemente ankommt
  4. Ich beschäftige mich seit Jahren mit der Bedeutung von Texten, wobei ich gelernt habe, dass nach guter jüdisch-christlicher Auslegungstradition jedes Jota und Häkchen zählt und seine Bedeutung hat (vgl. Mt 5,18)

Auf diese Weise mehrdimensional vorbereitet und mit dem nötigsten Werkzeug ausgestattet, begab ich mich auf neue Pfade und wilderte künstlich im Revier der Historiker.

3. Die Erkenntnis

Die wichtigste Methode beim Verständnis von Texten ist so banal wie genial: Zu allererst kommt es darauf an, genau hinzusehen. Die notwendige Voraussetzung für die rechte Erfassung eines Textes ist die möglichst objektive Kenntnis seiner äußeren Gestalt. Erst danach kann man sich dem inneren Gehalt widmen. Wenn in einem Text - und die Inschrift am Gesims eines Gebäudes fällt zweifellos in diese Kategorie zwischenmenschlicher Kommunikation - Satzzeichen enthalten sind, so sind dies Lese- und Interpretationsanweisungen für den geneigten Konsumenten des Geschriebenen. Das gilt umgekehrt auch für Zeichen, die an der falschen Stelle auftauchen oder in Widerspruch stehen zu gängigen Verstehensmustern und Sprachregeln. In diesen Fällen sind solche Zeichen sogar Hinweise besonderer Art, weil sie auf etwas Ungewöhnliches aufmerksam machen und tiefere Zusammenhänge vermitteln, es sei denn, die Ungereimtheiten verdanken ihre Existenz irgend einer zufälligen Fremdeinwirkung. Bei der Inschrift am Potsdamer Schloss ist dies aber ausgeschlossen. Der Text hat nie anders ausgesehen, noch kann es sich bei der merkwürdigen Interpunktion um die kunsthandwerkliche Freiheit des Bronzegießers handeln. Es ist also von einer bewussten Gestaltung auszugehen.
Unter diesen exegetischen Rücksichten erkannte ich in Prof. Dr. Kittsteiners Auslegung eine wirklich tiefgreifende und unerschrockene Auseinandersetzung mit dem Text in seiner empirischen Gestalt. Mit Prof. Kittsteiner selbst fühlte ich mich verbunden als einem Bruder im freien exegetischen Geiste.
Als ich selbst einen Blick auf den Text der Inschrift warf, fiel mir jedoch auf, dass nicht nur das Komma hinter dem SANS, sondern auch der Punkt hinter dem SOUCI von merkwürdiger Form ist und einer näheren Betrachtung bedarf. Der Punkt ist nämlich gar kein Punkt, sondern ein Dreieck! Die interessierte Leserin, der interessierte Leser möge sich selbst überzeugen:

Nach diesem persönlichen Augenschein und mit dem Wissen um die Hintergründe des Kommas als virgule = "Strichlein, Stäbchen, Rute" eröffnete sich mir nun auch der tiefere Sinn des vermeintlichen Punktes. Der Befund ist auch hier eindeutig, wenn man die fraglichen Zeichen in einiger Vergrößerung und geeigneter Drehung im Zusammenhang betrachtet:

 

Ich zögerte nicht, meine Erkenntnis Prof. Kittsteiner am 29. März 2002 (Karfreitag) in Form folgender email zu übermitteln:

Der Punkt beim SANS, SOUCI.

Sehr geehrter Herr Professor Dr. Kittsteiner,
gestern las ich in der ZEIT einen Artikel über Ihr Buch zur Inschrift Friedrichs des Großen an der Fassade des Potsdamer Schlosses. Ich fand Ihre Deutung des Kommas nach dem Wort "Sans" als "virgule" sehr überzeugend. Ob sich beim Preußenkönig dahinter anatomische Besonderheiten des männlichen Unterleibs verbergen, halte ich für möglich. Doch das ist gar nicht so entscheidend.
Mir ist bei näherem Betrachten des Schriftzuges aufgefallen, dass der Punkt hinter dem Wort SOUCI gar kein Punkt ist, sondern ein Dreieck! Was hielten Sie davon, auch dies nicht als zufällige bildhauerische Freiheit zu nehmen, sondern wie das Komma als bewusste Setzung zu verstehen? Das Satzzeichen gewissermaßen auch hier als viel weiter führendes Symbol?
Dann würde der vermeintliche Punkt als Gegenstück zum "virgule" eine adäquate anatomische Deutung ermöglichen. Wenn nämlich das Komma in diesem zwischenmenschlichen Beziehungsgefüge den männlichen Part bezeichnete, so das Dreieck den weiblichen Widerpart.
Zu lesen wäre dann: Ohne "Komma" Sorgen (mit dem) "Dreieck".
Damit sollte allen Spekulationen über eine Homosexualität Friedrichs die Grundlage entzogen sein. Zudem entspricht diese Lesart viel genauer dem textlichen Erscheinungsbild als die doch sehr gezwungen wirkende Deutung des Punktes als Übersetzung des französischen "point" = "nicht".
Auch Ihre religiösen Deutungen erscheinen mir recht weit her geholt. Obwohl ... das Dreieck natürlich auch eine eminent theologische Dimension (Trinität!!!) erkennen ließe. Darüber will ich aber hier gar nicht spekulieren, das würde jetzt zu weit führen ...
Stimmt aber mein Vorschlag, in dem Punkt ein Dreieck als Repräsentanten des weiblichen Geschlechts zu sehen, so ergibt sich noch eine wunderbare Wortspielerei zwischen den lateinischen Begriffen "virgule" = "Strichlein, Stäbchen" und "virgo" = "Jungfrau". Ich halte nach diesem Nach-Denken eine erotische Interpretation der Inschrift für ganz unabweisbar.
Ich habe jedenfalls - als Theologe im Deuten schwieriger Texte recht erfahren ... - an dieser kleinen Exegese eine ganz famose Freude gehabt. Dafür danke ich Ihnen sehr herzlich!

Freundliche Grüße und schöne Feiertage
Ihr Friedhelm Wessel

Kurz darauf antwortete mir Prof. Dr. Kittsteiner mit folgender Postkarte:

(Die hier wiedergegebenen Farben entsprechen weit gehend dem Original!)

Der Text der Karte lautet kurz und bündig:

Sehr geehrter Herr Wessel,

auf das Dreieck war ich natürlich auch gestoßen; aber Ihre Interpretation ist - für die virgule-Variante - ziemlich überzeugend!

Herzlichen Dank

Ihr H.D. Kittsteiner

Fazit:

So kann das WORT aus den kleinsten Elementen lebendig werden und voller Freude eine Geschichte erzählen.